Interview mit Helmut Haberkamm

Herr Haberkamm, Sie sind Mundartdichter. Warum schreiben Sie Ihre Texte nicht in Hochdeutsch, sondern in so einer exotischen Sprache wie dem Dialekt, noch dazu dem des mittelfränkischen Aischgrunds?

Reizvoll erscheint mir am Dialekt zunächst die erfrischende Entfernung von der geschleckten, geschwollenen, hochgestochenen Schriftsprache, von der hierzulande oft recht verkopften, teilweise auch verbrauchten Literatursprache. Das Hochdeutsche kommt mir sehr sachlich vor, heimatlos, anonym. Es kann ausgesprochen nüchtern und ungelenk klingen, auch sehr überheblich und eingebildet. Nicht bei Eichendorff und Rilke, aber im Allgemeinen. Der Dialekt ist – zumindest bei mir – geprägt von der bäuerlichen Arbeitswelt, vom Dorf- und Familienleben, also von Kindheits-Sprache und Mutter-Sprache. Damit wirkt die Mundart für mich einfach unheimlich heimelig, dingfest und bildhaft zugleich. Persönlicher, intimer, konkreter, spontaner, direkter als das Hochdeutsche. Sie rührt sofort an tiefe Schichten des Gefühls und der Erinnerung. Einer Landschaft wie dem Aischgrund oder Franken wird man mit den Mitteln des Hochdeutschen niemals wirklich gerecht. Von daher erscheint der Dialekt als das Naheliegendste. Es ist die grundständige, mundgerechte Ausdrucksform für mein Thema.

Aber gleichzeitig ein ungemein schwieriges Medium. Denn wer soll denn das lesen? Wie schreibt man das denn überhaupt? Gibt es überhaupt so etwas wie Rechtschreibregeln?

Natürlich nicht, das ist ja das Schöne. Es ist ein großer Freiraum, ein Zustand ohne Normen und Regeln, den das Hochdeutsche nach 1800, spätestens nach Konrad Duden gar nicht mehr kennt. Man schreibt, wie man es hört und spricht. Gleichzeitig weiß ich, wenn der Dialekt als Literatur – und das heißt ja mit Buchstaben schwarz auf weiß festgehalten – überzeugen und überdauern soll, dann braucht man Stimmigkeit und Klangtreue. Deshalb bemühe ich mich in meinen Gedichtbänden um eine phonetisch möglichst genaue Schreibweise, um den Originalton möglichst getreu zum Klingen bringen zu können. Aber es gibt eben auch Laute und Nuancen, die kann ich mit Buchstaben nur andeuten. Zum Beispiel schreibe ich ooziehng, sowohl wenn es anziehen als auch wenn es abziehen heißt. Es sind zwei völlig unterschiedliche Formen des Lautes o, aber ich kann sie nicht mit diesem Buchstaben o allein kennzeichnen. Neben dieser Bemühung um Lautgenauigkeit gibt es aber auch die leserfreundliche Orientierung an der normierten hochdeutschen Schriftsprache. So schreibe ich das Wort ooziehng mit ie und mit h, weil es von ziehen kommt und somit dem Leser durch das Schriftbild die gemeinte Lautung, also das lange i, sowie Wurzel und Wortbedeutung ausdrücklich nahelegt.

Trotzdem bleibt es für den Leser ein hartes Stück Arbeit, einen Dialektband zu lesen.

Das stimmt. Aber das Leichte verführt auch zum Oberflächlichen, zum Überfliegen, zum bequemen Konsum, von dem wenig bleibt. Das Wertvolle ist oft mühsam, der eher steinige Weg. Wenn man Rilke oder Celan liest, versteht man auch vieles nicht, darin liegt ja gerade der Reiz und die Rührung. Mundart lesen bedeutet anstrengende Einlesearbeit, so daß einem schier die Augen übergehen können. Es handelt sich um eine Form des Lesens, wie wir sie eigentlich nicht mehr kennen. Das Herumrätseln zwingt zum langsamen Buchstabieren, zum allmählichen Entziffern, bis dann der Groschen fällt. Der Aha-Effekt ist eine schöne Begleiterscheinung beim Lesen.

Aber liegt in dieser Sprache nicht auch eine große Beschränkung?

Ohne Zweifel. Der Dialekt ist in verschiedener Hinsicht sehr begrenzt. Das Verbreitungsgebiet von Dialektliteratur ist beschränkt, auch die Themenpalette. Großartige Poesie wie Rilkes Duineser Elegien oder T.S. Eliots Waste Land kann man sich auf Fränkisch nicht vorstellen. Auch keine fränkischen Dialektromane von mehreren hundert Seiten. Da ist auch die Tragfähigkeit der Sprache beschränkt, und natürlich auch die Belastbarkeit des Publikums.

Wer ist das überhaupt, Ihr Publikum?

Die Zuhörer und Leser von Mundarttexten kommen in großer Zahl aus eher einfachen ländlichen und kleinstädtischen Schichten, aber auch aus bildungsbürgerlich angehauchten Ecken. Viele sind fortgeschrittenen Alters, aber es gibt auch ganz junge. Da sitzt die schlichte Rentnerin neben dem Schüler, der Stammtischschmarrer neben dem Germanistikdozenten, der Alteingesessene neben dem Hereingeschneiten. Die Bandbreite ist in der Tat außergewöhnlich. Vor allem erreicht man Menschen, die mit Büchern und Literatur an und für sich nichts am Hut haben. Ein Abglanz von damals, als Shakespeare vor allen Volks seine Stücke aufführte vor vierhundert Jahren. Mir ist das Herkommen des Lesers und Hörers eigentlich weniger bedeutsam. Wichtiger erscheint mir, daß meine Texte Selbstbesinnung und Selbst-Bewußtsein auslösen, daß sie Momente der Verbundenheit herstellen, daß sie mithelfen, Sprachlosigkeit zu überwinden, Vergessenes, Vergangenes und Verschwindendes aufheben und betrachten. Und meiner Mundart Wert und Würde geben.

Ihre Gedichte und Theaterstücke überraschen einen mit vielen entlegenen, unvertrauten Wörtern, die Sie offensichtlich mit großer Freude einsetzen.

Auf jeden Fall. Mundart, das bedeutet für mich ein hohes Maß an Wohlklang und Sprachmusik.

Innovation bedeutet einerseits einen hohen künstlerischen Anspruch, andererseits wird dann geklagt, daß dabei die echte, ursprüngliche Mundart vielleicht auf der Strecke bleibt.

Was soll denn das sein, das echte Urfränkisch? Die Mundart ist doch schon immer eine Mischsprache gewesen, in der alle möglichen fremdartigen Materialien Eingang fanden. Die reine, d.h. unverfälschte und echte Mundart hat es nie gegeben. Gerade so urfränkische Ausdrücke wie ficherland und gwiefd kommen aus dem Französischen. Die scheinbar urfränkischen Begriffe Karpfen und Weiher, Wein und Most stammen allesamt aus dem Lateinischen, sogar das Seidla und sein Bier!

Aber ist das nicht eine reichlich unzeitgemäße Angelegenheit, in der Mundart zu schreiben – angesichts des Dialektschwunds und in Zeiten von Verstädterung und Globalisierung?

Ach Gott, das ewige Gejammer darüber, daß das echte Fränkisch im Verschwinden begriffen ist, finde ich lästig und leichtfertig. Denn die Mundart wandelt sich eben, sie besetzt andere Nischen und feiert ihre leisen Triumphe. Wenn sie was taugt, wenn sie gewollt und gebraucht wird, dann wird sie überleben. Ich versuche, mein Scherflein dazu beizutragen, um ihr mit meinen Arbeiten mehr Würde und Wert zu verleihen. Als Literatursprache muß die Mundart geistreich sein, poetisch, formschön, gewitzt und frech. Sonst kräht irgendwann zurecht kein Hahn mehr nach ihr.

Viele Leute sehen den Dialekt ja überhaupt auf dem Rückzug angesichts der Medienwelt, der Mobilität und des Strukturwandels auf dem Lande. Ist die Mundart eine sterbende Sprache?

Die eigentliche Gefahr für die fränkische Mundart sehe ich eher im mangelnden Selbstbewußtsein der Mundartsprecher selber, im mangelnden Status des Dialekts. Viele Leute hierzulande schätzen den Dialekt eher gering und tun ihn als hinterwäldlerische Bauernsprache ab, was im Grunde nur ihre eigene Ignoranz unterstreicht. Wie oft hört man nicht das Geschwafel vom sogenannten anständigen Deutsch? Sprich ordentlich! Wie heißt das richtig? So richten sie die Kinder ab. Als ob die Mundart etwas Unanständiges wäre.
Und dann noch das dumme Vorurteil, daß derjenige, der Mundart spricht, Probleme mit dem Hochdeutschen habe oder Nachteile in der Schule. Das Gegenteil ist doch der Fall. Je mehr Sprachen, desto besser. Viele unserer sprachmächtigsten Künstler kommen ja aus dem Dialekt und erfuhren ihn als lebenslanges Reservoir an Bildkraft und lautlich-rhythmischer Verdichtung. Ob das die Österreicher H.C. Artmann, Thomas Bernhard oder Ernst Jandl sind oder die Schweizer Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt. Ob Qualtinger oder Gerhard Polt, die Biermösl Blosn oder Sigi Zimmerschied, ob BAP oder Hubert von Goisern, Ringsgwandl oder Edgar Reitz, sie alle haben gezeigt, welche künstlerischen Perlen man aus dem Dialekt und aus der Heimat herausfischen kann. Aber solange in Franken die Dialektsprecher auf der Bühne strotzdämlich nach dem Hirn suchen und mit trotteligen Grimassen und saublöden Sprüchen die Leute zum Besten haben, bleibt der Dialekt eine nicht ernst zu nehmende Spielart, eine lächerliche Nummer. A weng a Gschmarri halt. Wenns weiter nix is, na kammern wergli vergessen.

Erstaunlicherweise feiert der Dialekt ja in der Kleinkunst und im Kabarett große Erfolge.

Aber schauen Sie sich das Niveau einmal an. Da schämt man sich ja ein Franke zu sein. Das ist doch fast alles künstlerisch ohne Qualität, viel zu geistlos und platt. Immer das Schielen auf den schnellen Lacher, das Kichern hinunter unter die Gürtellinie. Immer dieselben Versatzstücke: Frankenwein und Bier, Bratwurst, Schäuferla und Klöß, Glühwein, Lebkuchen und der Club, – na klasse! Lauter Gschmarri, Gaudi und Gwerch. Und wenn von Literatur die Rede ist, dann hält man die fränkische Ausgabe von Asterix, Max und Moritz oder dem kleinen Prinzen für eine wunderbare Großtat. So etwas stinkt natürlich nach Provinz. Da fehlt die Originalität, die Innovation, die sprach- und formschöpferische Eigentümlichkeit.

Sie haben eine Trilogie mit jeweils 77 Gedichten veröffentlicht, anschließend zwei Gedichtbände mit Fotografien und jeweils 49 Gedichten. Offensichtlich hat es Ihnen die Zahl 7 angetan.

Es gibt Zahlen, die ich sehr liebe, aus dunklen, unerfindlichen Gründen. Dazu gehören die 7, aber auch die 12 oder 33. Meine Lieblingszahl ist die 3, deshalb neige ich zur Bildung von Trilogien. Dahinter steckt aber auch das Bemühen um eine stimmige Struktur des Ganzen, um einen Gedichtband mit Konzept und Kontur. Die Anlage wird ein Teil der Bedeutung, wie bei einer Kathedrale oder einer Sinfonie.

Nach Ihrer Aischgrund-Trilogie (1992-1995) wollten Sie sich vom Dialektgedicht entfernen und traten mit Erzählungen und Theaterstücken hervor. Dann kam 1999 der außergewöhnliche Foto-Gedichtband Lichd ab vom Schuß heraus. Wie kam es zu diesem Projekt?

Im Rückblick war es eine glückhafte Begegnung, als ich mit dem Fotografen Andreas Riedel aus Neustadt an der Aisch zusammenkam. Er kam auf mich zu mit seinen Porträts und Stilleben aus dem Aischgrund und mir war schnell klar, daß das auch meine Welt ist, mein Thema, mein Anliegen, meine Stimmung. Dies war der Beginn einer stets unkomplizierten, kreativen Zusammenarbeit. Die Bilder im Buch sind größtenteils dialogisch entstanden, im Gespräch, beim Herumlaufen zu zweit, beim Stöbern auf dem Hof der Familie. Wir wollten auf keinen Fall museale Settings, keine zurechtgemachten Arrangements. Wir wollten Alltag, Arbeitsleben und Gebrauchsspuren. Fast alle Fotografien sind persönlicher Herkunft, zeigen Momente altvertrauter Orte. Darin liegt die Dichte, der Ernst und die melancholische Schönheit des Bandes.

Besteht dabei nicht die Gefahr der Gestrigkeit und der nostalgischen Rückbesinnung?

Solche Gedichte können von Haus aus die Erfahrung von Verlust, Entwertung und Niedergang bäuerlicher Inhalte nicht ausblenden. Freilich war vieles an der Vergangenheit wenig zur Verklärung geeignet. Das Leben der Menschen in der sogenannten guten, alten Zeit war meistens ungemein hart, armselig und eng. Larmoyanz und Nostalgie liegen mir weniger als Wut und Trauer, ein Bedauern, daß bestimmte Haltungen, Gebräuche, Abläufe, Einstellungen, Vorlieben so sehr über Bord geworfen werden und so wenig gelten, während der letzte Schwachsinn und der billigste Schnickschnack Tag für Tag fröhliche Urständ feiern bei den Leuten. Wo doch so vieles möglich wäre, mein Gott!
Natürlich will ich keine rückwärtsgewandte Vergangenheitsfixierung betreiben, – mir geht es mehr um unsere Gegenwart: Was geht zur Zeit verloren, was verschwindet? Was war da einmal, was ist es wert, überliefert, gerettet, in neuer Form anverwandelt zu werden? Insofern meine ich: Überbleibsel, Relikte können Indizien sein, ein Silberstreif, denn das Lichd ab vom Schuß ist vielleicht auch ein Vor-Schein von Möglichkeiten, die uns achtsamer, zufriedener, tiefgängiger leben lassen. Eine so verstandene Rührung kann ja der Anfang von Bewegung sein, von Wandlung und Veränderung.

Das Gespräch führte Frank N. Wirth am 3.7.2003